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Der Beginn der Dialektgeographie als eigenständiger sprachwissenschaftlicher Disziplin ist im deutschen Sprachraum mit dem Namen Georg Wenkers (1852-1911) verknüpft: Zwischen 1879 und 1888 verschickte Wenker im damaligen Deutschen Reich Fragebögen mit 40 später als Wenkersätze bezeichneten hochdeutschen Sätzen an die Lehrerschaft mit der Bitte, die Sätze in den jeweiligen Ortsdialekt zu übersetzen. Wenker sammelte über 46'000 solcher dialektaler Übersetzungen, die danach im Sprachatlas des Deutschen Reichs (1889-1923) zu Karten bestimmter (vor allem lautlicher und morphologischer) Phänomene verarbeitet wurden. Allerdings konnten diese handgezeichneten vielfarbigen und äussert detaillierten Karten während Jahrzehnten nicht oder nur zu einem kleinen Teil in vereinfachter Form publiziert werden. Erst seit einigen Jahren sind die originalen Fragebögen und die Karten über die REDE-Plattform elektronisch zugänglich (https://regionalsprache.de).
Die primäre Datengrundlage, d.h. die Übersetzungen der 40 Sätze in die jeweiligen Ortsdialekte, wurde vor allem unter Wenkers Nachfolger Ferdinand Wrede (1863-1934) systematisch auf das gesamte kontinentalwestgermanische Dialektgebiet erweitert: Mehr oder weniger flächendeckende Erhebungen der Wenkersätze existieren unter anderem zu Luxemburg, Österreich, der deutschsprachigen Schweiz, den Niederlanden und zu Flandern. In der Deutschschweiz fand die Erhebung, mit Unterstützung von Albert Bachmann, dem damaligen Direkter des Schweizerdeutschen Wörterbuchs, zu Beginn der 1930er Jahre statt. Sie erbrachte etwas mehr als 1'700 dialektale Übersetzungen der Wenkersätze aus der gesamten Deutschschweiz. Das Ortsnetz ist somit dreimal dichter als beim Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS), welcher 573 Orte abdeckt.
Mit den späteren Erhebungen besteht heute ein Bestand von über 55'000 dialekalen Versionen der Wenkersätze. Damit dürfte es sich um das weltweit grösste Parallelkorpus handeln (zum Vergleich: von bestimmten biblischen Büchern existieren maximal ca. 2'500 verschiedene Versionen; vgl. Mayer & Cysouw 2014: 3158). Abgedeckt wird praktisch das gesamte kontinentalwestgermanische Sprachgebiet, darüber hinaus sind auch (Teile von) Sprachen dokumentiert, die in diesem Gebiet eingeschlossen sind oder daran angrenzen (u.a. Dänisch, Französisch, Sorbisch, Kaschubisch, Polnisch oder Slovenisch).
Im Workshop geht es darum, eine Einführung in das Wenker-Material zu bieten und Möglichkeiten, aber auch Grenzen für moderne Analysen aufzuzeigen. Dabei stehen syntaktische Phänomene und damit ein Bereich, der in den vergangenen zwanzig Jahren in der Dialektologie immer zentraler geworden ist, im Vordergrund.
Da es sich bei den Wenker-Übersetzungen um mittlerweile bereits historisches Material handelt, das auch immer wieder kritisiert wurde, werden methodische Fragstellungen besonders stark berücksichtigt, wobei hier die Schweizer Wenkersätze (vgl. dazu u.a. Kakhro 2005) besonders berücksichtigt werden. Anhand verschiedener Einzelanalysen (u.a. Infinitivsyntax, Auxiliar- und Tempus-Wahl, Negationsstrukturen, Realisierung von Subjektspronomen und Artikeln, Wortstellung, Enkodierung von Richtungsangaben etc.) wird aufgezeigt, wie mit diesem gigantischen Datenschatz methodisch abgesichert syntaktische Analysen durchgeführt werden können.